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„kein wurm so sich nit krömt als man ihn tritt.“

Das Leben der Charlotte von Hessen-Kassel Kurfürstin von der Pfalz (1627–1686)


Rezensent(in): Kreutz Wilhelm

Erscheinungsjahr: 2021
Autor(en): Helfer Hannelore
Erscheinungsort: Ubstadt-Weiher

Hannelore Helfer, die 2007 eine exzellente Edition der Korrespondenz zwischen Liselotte von der Pfalz und ihrer Erzieherin, Frau von Harling, vorlegte, hat sich seit 2014 intensiv mit dem Leben der pfälzischen Kurfürstin Charlotte von Hessen-Kassel, der Mutter der Herzogin von Orléans und ihres Bruders Carl, beschäftigt. Gestützt auf die umfangreiche Korrespondenz Charlottes, weitere Briefwechsel aus dem Kreis der Familie, die Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover, Liselottes geliebter Tante Sophie, sowie andere Quellen zeichnet sie erstmals ein differenziertes Bild dieser Kurfürstin. Mit den vorgelegten Dokumenten und deren detailreichen Interpretationen widerlegt die Verfasserin die seit mehr als dreihundert Jahren kolportierten Vorurteile und verweist die in der Forschung tradierten Interpretationen ins Reich der Legende. Maßgeblichen Einfluss auf das Zerrbild übte ihr Ehemann, Kurfürst Karl Ludwig, aus, um seine zweifelhafte Trennung und seine morganatische Ehe mit der Raugräfin Louise von Degenfeld, einer Hofdame Charlottes, zu rechtfertigen. Mehr als dreihundert Jahre folgte die Forschung dem 1660, zwei Jahre nach der morganatischen Eheschließung Karl Ludwigs mit Louise von Degenfeld, anonym verfassten Machwerk Demüthige Supplikation Schrifft Churfürstlicher Pfaltzischer Gemahlin Scharlotte von wegen Ihrem Gemahls, Churfüstens in der Pfalz außgesetzter Ehepflichtung sub praetextu denegatae cohabitationis, ohne dessen negative Tendenz zu hinterfragen oder gar infrage zu stellen. Seither galt die Mutter des letzten Kurfürsten aus der Linie Pfalz-Simmern, Carl II., und seiner berühmteren Schwester als ungebildet, halsstarrig, widerborstig, verdrießlich, leichtlebig, verschwenderisch, eitel und verantwortungslos, um ja kein negatives Epitheton auszulassen. Zudem habe sie nicht nur im Mai 1753 den Tod ihres zweiten Sohnes Friedrich, der seine Sturzgeburt während einer Reise von Regensburg nach Augsburg nur wenige Stunden überlebte, leichtfertig in Kauf genommen, sondern auch durch ihr seltsames Gebaren ihren Ehemann in die Arme der späteren Raugräfin getrieben. Für das Scheitern der Ehe und die skandalösen Verhältnisse am Heidelberger Hof sei – so die Opinio communis – allein sie verantwortlich gewesen.

Demgegenüber ist es der Verfasserin überzeugend gelungen, das Leben dieser selbst- und standesbewussten, intelligenten und lebenslustigen Adligen detailreich nachzuzeichnen, der die konfessionellen und dynastischen Verhältnisse gleichwohl enge Grenzen setzten. Hinzu kamen die finanziellen Probleme der kurfürstlichen Kasse und die Böswilligkeit ihres Ehemannes, der ihr u.a. die Teilnahme an der Taufe ihres Neffen Wilhelm in Kassel ebenso verbot wie die Reise zur Beerdigung ihrer Mutter. In der Korrespondenz mit ihrem Bruder, Landgraf Karl, tritt ihre Verzweiflung darüber, dass sie gehindert werde, ihre familiäre Pflicht („devoir“) zu erfüllen, klar zum Ausdruck. Sie litt zudem darunter, dass ihre Tochter ab 1659 in Hannover von ihrer ungeliebten Schwägerin erzogen wurde, dass man sie von der kurfürstlichen Tafel ausschloss und aus ihren Schlafgemächern vertrieb, zumal die Raugräfin dreizehn Kinder zur Welt brachte, von denen fünf in frühester Kindheit starben. Dennoch hielt sie, auch nachdem sie 1663 nach Kassel zurückgekehrt war, beharrlich an ihrer Ehe fest, obwohl Karl Ludwig ihr alle Unterhaltszahlungen strich. Erst nach seinem Tod am 7. September 1680 kehrte sie – nach siebzehnjähriger Abwesenheit – nach Heidelberg zurück, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Sie überlebte ihren Sohn Carl, der am 16. Mai 1685 starb, um fast ein Jahr, in dem die strenge Calvinistin noch die Regierungsübernahme durch das katholische Haus Pfalz-Neuburg erleben musste. Sie starb am 16. März 1686 und fand in der Heiliggeistkirche ihre letzte Ruhestätte, die während des – im Namen ihrer Tochter von Ludwig XIV. vom Zaun gebrochenen – pfälzischen Erbfolgekriegs 1693 von französischen Soldaten geschändet wurde.
 
Wie erfolgreich die in Bergzabern geborene, in Mainz promovierte Biochemikerin nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit in Basel Geschichte und Germanistik mit besonderer Berücksichtigung der Editionsphilologie studierte, belegt die aktuelle Publikation erneut. Die Kritik Hannelore Helfers am lange tradierten Zerrbild der Kurfürstin macht die Lektüre des Buches für jeden an der kurpfälzischen Geschichte Interessierten zur Pflicht, ihr eleganter Stil und ihre bestechenden Formulierungen zu einem Vergnügen. Eine Chronologie, ein Quellen-, Literatur-, Personen- und Stichwortverzeichnis runden die rundum gelungene Monographie ebenso ab wie ein knappes Ortsregister, ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis. Zu bedauern ist allenfalls, dass die inzwischen 92-jährige Autorin wohl keine ebenso detaillierte wie differenzierte Studie weder zum Leben und Wirken Kurfürst Karl Ludwigs noch des von der Forschung mehr als stiefmütterlich behandelten Kurfürsten Carl II. erarbeiten kann. Umso mehr Leserinnen und Leser sind zum vorliegenden epochemachenden Band zu wünschen.

Wilhelm Kreutz, Rez. von Hannelore Helfer, "kein wurm so sich nit krömt als man ihn tritt." Das Leben der Charlotte von Hessen-Kassel Kurfürstin von der Pfalz (1627–1686) (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Bd. 122), Ubstadt-Weiher 2021, URL: https://www.hist-verein-pfalz.de/de/rezensionen/7/wid,983/rezensionen.html
Erschienen in: Pfälzer Heimat 74,1 (2023)

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