Zwei Wege nach Auschwitz
Rezensent(in): Meinzer Lothar
Erscheinungsjahr: 2018
Autor(en): Kreutz Wilhelm, Strobel Karen
Erscheinungsort: Mannheim
Rudolf Höß, den Kommandanten des KZ Auschwitz, den Organisator der Zyklon-B-Todesfabrik, muss man nicht weiter vorstellen. Traurige Berühmtheit erlangte er nicht nur durch seine unsagbaren Verbrechen, sondern auch durch seine Lebensgeschichte „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“, die er in der Todeszelle auf Bitten des polnischen Staatsanwalts niederschrieb. Bereits 1958 veröffentlichte Martin Broszat, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München, einen Großteil dieser autobiographischen Aufzeichnungen, die ob ihrer vermeintlich schonungslosen Offenheit und Authentizität zu einem der wichtigsten Quellentexte für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden und sich mit ihren mittlerweile 27 Auflagen zum Verkaufserfolg entwickelten.
Lange Jahrzehnte wurde dieser Text unkritisch für bare Münze genommen. Erst jüngst hat man begonnen, Höß‘ Aussagen etwa zur Entstehung des Auschwitzkomplexes, zum Beginn der Massenvernichtung mit Zyklon B oder zu den Opferzahlen kritisch zu hinterfragen, zu korrigieren und seine Selbstentlastungsstrategie zu entlarven. Weite Teile seiner Autobiographie blieben davon freilich unberührt. Im vorliegenden, durchgängig reich bebilderten Buch ist es Wilhelm Kreutz und Karen Strobel erstmals gelungen, das ganze Ausmaß des Höß’schen Lügengebäudes offenzulegen. Die Autoren setzen bereits bei seiner Herkunftsfamilie aus Bühl bei Baden-Baden an, verfolgen deren Weg nach Mannheim, die Schulzeit von Rudolf Höß im Lindenhof und später am humanistischen Karl-Friedrich-Gymnasium. Sie bürsten alle Aussagen gegen den Strich, recherchieren in einem umfangreichen und in vielen Teilen neu erschlossenen Quellenmaterial, werten Personenstandsregister, Meldekarten, Schulakten, Adressbücher ebenso akribisch aus wie beispielsweise die Kriegsstammrollen der Badischen Armee.
Und siehe da: Höß hat in großem Umfang gelogen, geflunkert, erfunden, getäuscht. Er war kein Sohn einer großbürgerlichen Familie, Vater und Großvater waren keine Offiziere, dienten schon gar nicht in Deutsch-Ostafrika oder waren im Kolonialhandel tätig. Rudolf Höß legte nicht die mittlere Reife am KFG ab, meldete sich anschließend nicht freiwillig zum Kriegsdienst, kämpfte nicht an der Irak- und Palästina-Front gegen die Engländer usw., usw. Stück für Stück fällt das Höß’sche Kartenhaus in sich zusammen, ebenso wie die darauf basierenden Täter-Psychogramme, die aus den angebotenen Versatzstücken (militärische Tradition, koloniales Engagement, autoritätsfixierter und autoritärer Charakter, Befehl und Gehorsam in der Familie etc.) eine prototypische „deutsche Karriere“ konstruierten.
Auch Höß‘ weiterer Lebensweg, der ihn gen Osten zum Freikorps Roßbach und zu landwirtschaftlicher Arbeit in Mecklenburg führte, wird in gleicher Weise anhand bisher nicht beachteter Akten der Archive in Schwerin, Potsdam und Berlin kritisch durchleuchtet. Wegen seiner Beteiligung am „Parchimer Fememord“ 1924 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, kam Höß 1928 vorzeitig frei und schloss sich dem Artamanenbund an, der mit seiner kruden Mischung aus lebensreformerisch-jugendbündischer Attitude und nordisch-rassistischer Blut-und-Boden-Ideologie direkt anschlussfähig an nationalsozialistische Bewegungen war. Höß vollzog diesen Anschluss im September 1933 mit seinem Eintritt in die SS.
Das vorliegende Buch basiert auf einem lokalgeschichtlichen Ansatz und weitet von da aus sukzessive den Blick. So wird auch das Aufzeigen einer ungewöhnlichen und berührenden Konstellation möglich, auf die der Buchtitel bereits hinweist: zwei Wege nach Auschwitz. Während seiner Schulzeit in Mannheim traf der junge Rudolf Höß auf die acht Jahre ältere Sophie Stippel, geb. Greiner, die in der elterlichen Metzgerei arbeitete und später auch in der Gastwirtschaft ihrer Eltern aushalf. Beide lagen auf seinem Schulweg, dort kaufte er gelegentlich ein, und Sophie Stippel hat wohl das eine oder andere Mal mit dem etwas „verloren wirkenden Jungen“ gesprochen; so jedenfalls erzählte sie es später ihrem Enkel.
Im Weiteren verfolgen die Autoren, wiederum akribisch und quellenbasiert, den Lebens- und Leidensweg der Sophie Stippel synchron zu den Stationen in Höß‘ Leben. 1929, nach dem frühen Tod ihrer damals achtjährigen Tochter, geriet sie in eine tiefe Lebenskrise. Trost und Halt fand sie bei den Zeugen Jehovas (Ernste Bibelforscher), denen sie ein Leben lang treu blieb, auch und gerade nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, als die Bibelforscher-Vereinigungen aufgelöst und mit einem Betätigungsverbot belegt wurden. 1936 wurde Stippel erstmals verhaftet, das Mannheimer Sondergericht verurteilte sie zu acht Monaten Gefängnis. 1937 erfolgte nach einer Denunziation die zweite Verhaftung, 1938 die Einweisung ins KZ Prettin-Lichtenburg, wenig später die Verlegung ins KZ Ravensbrück. 1942 traf sie mit einem der ersten Frauentransporte im KZ Auschwitz ein.
Dort muss Rudolf Höß sie direkt erkannt haben. Bereits vier Tage später (unter)schrieb er ihren provisorischen Ausweis: „Schutzhäftling Sophie Stippel … I.B.V. (in besonderer Verwendung?) … Kdo. (Kommando?): Privatwohnung Lagerkommandant“. Bis zur Auflösung des Lagers im November 1944 arbeitete sie als Haushälterin, Köchin und Kinderfrau in der Privatvilla des Ehepaars Höß. Danach ging es, immer noch mit Familie Höß, zurück nach Ravensbrück. Hier, so fabulierte Höß, habe er für seine Familie Gift beschafft, um nicht lebend den Russen in die Hände zu fallen. Um der Kinder willen hätten seine Frau und er aber davon Abstand genommen. Sophie Stippel brachte nach dem Krieg auch diesen letzten Baustein im Höß’schen Lügengebäude zum Einsturz, nämlich die Mär vom selbstlosen Elternpaar, das mit Rücksicht auf die Kinder vor dem Selbstmord zurückgeschreckt sei. Sie berichtete, dass Höß ihr die Giftampullen ausgehändigt habe mit dem Befehl, die Kinder zu vergiften, wenn die Russen kämen.
Den Autoren ist eine in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliche und bemerkenswerte Studie gelungen. Sie verbinden den dezidiert lokalgeschichtlichen Ansatz für die beiden Biographien mit allen Weiterungen, die sich aus den Lebenswegen ergeben, und eröffnen damit einen neuen Zugang zu den allgemeinen Geschehnissen der Zeit, aber auch tiefe Einblicke in die jeweiligen soziokulturellen Milieus, in denen sich die beiden Protagonisten bewegten. Sie erzählen die bewegende Geschichte der Sophie Stippel und damit exemplarisch der Zeugen Jehovas, denen sie ihr Leben lang anhing. Jahrzehntelang musste sie um eine angemessene Entschädigung und Rente kämpfen, ehe sie 1985 hochbetagt im Alter von 93 Jahren verstarb.
Rudolf Höß wurde im April 1947 am Ort des ehemaligen Stammlagers Auschwitz gehenkt. Die Autoren haben, wie bisher noch keiner in der historischen Forschung, das gewaltige Ausmaß der Lügen in den Lebenserinnerungen des Rudolf Höß aufgedeckt, die bis heute gemeinhin als authentische und verlässliche Quelle zur Holocaust- und KZ-Forschung angesehen werden. Es hätte den Rahmen der vorliegenden Darstellung sicher gesprengt, auch Höß‘ Aussagen zum System der Konzentrationslager oder zur Vernichtungspraxis in Auschwitz in allen Details zu hinterfragen. In seiner Einführung stellt Herausgeber Ulrich Nieß aber zu Recht die Frage, ob dies nicht tatsächlich eine noch zu bearbeitende Thematik für die internationale Holocaust-Forschung darstelle. Der Aufschlag dazu ist mit dem vorliegenden Werk jedenfalls gemacht.
Lothar Meinzer, Rez. von Wilhelm Kreutz u. Karen Strobel, Der Kommandant und die Bibelforscherin: Rudolf Höß und Sophie Stippel. Zwei Wege nach Auschwitz (Schriftenreihe Marchivum Nr. 1), Mannheim 2018, URL: https://www.hist-verein-pfalz.de/de/rezensionen/7/wid,970/rezensionen.html
Erschienen in: Pfälzer Heimat 74,1 (2023)