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Schisma als Deutungskonflikt

Das Konzil von Pisa und die Lösung des Großen Abendländischen Schismas (1378-1409).
(= Papsttum im mittelalterlichen Europa 8)
2019
Rezensent(in): Miethke Jürgen

Erscheinungsjahr: 2019
Autor(en): Eßer Florian
Erscheinungsort: Wien-Köln-Weimar

Als Dissertation an der Technischen Hochschule Aachen unter der Anleitung von Harald Müller entstanden, 2016 bereits von der Fakultät approbiert und danach durch intensive Handschriftenstudien (insbesondere im Vatikan und in Paris) zu einem Buch ausgearbeitet, geht die Studie zentralen Problemen nach, die das Konzil von Pisa (1409) der historischen Forschung seit langem gestellt hat und in neuester Zeit besonders drängend immer wieder neu stellt. Etwas schnippisch erklärt Vf. im Vorwort, am Anfang seiner Arbeit habe eine „durchaus dumme Entscheidung“ gestanden (und daß es eine „dumme Entscheidung“ war, wird dann noch einmal unterstrichen), nämlich „eine Dissertation über ein Thema zu schreiben, zu dem die Quellen außerordentlich zahlreich, oftmals langatmig und bisher teils nur unzureichend erschlossen“ seien. Zudem sei das Thema ihm auch „zuvor kaum bekannt“ gewesen. Dem zum Trotz habe er „diese Entscheidung (…) nie bereut.“ Mit diesem Eingeständnis gibt er freilich nur eine Selbstverständlichkeit preis: Welcher Doktorand weiß schon sofort bei oder sogar vor Beginn seiner Arbeit viel oder gar alles über die Probleme, die sein Thema aufwirft! Es sei dem Vf. aber gern bestätigt, daß seine jahrelangen Mühen bis zum Abschluß des Ms. (im Juli 2018, so sagt er S. 139) ein durchwegs beachtliches Ergebnis hatten. Die jetzt gedruckten nahezu 900 Seiten erschließen das Konzil von Pisa in dreifacher Hinsicht durchaus neu und besser als das bisher geschehen war. Hier liegt eine Studie vor, die bei entsprechender Ökonomie der Planung nicht weniger als drei veritable Dissertationen hätte ausfüllen können. Kenntnis und Verständnis des Konzils von Pisa und damit des folgenreichen ersten Versuchs, die spätmittelalterliche Kirchenkrise durch ein „Allgemeines Konzil“ zu überwinden hat diese Arbeit jedenfalls gefördert.
Es ist nicht einfach, dieses Urteil über das voluminöse Buch knapp verständlich zu machen. Vf. will im Zuge des neuerlich verstärkt sichtbar gewordenen Interesses an den Konzilien des Spätmittelalters für das Pisanum (bekanntlich das erste Allgemeine Konzil des „Großen Abendländischen Schisma“ im Spätmittelalter, das ohne die Leitung durch einen Papst auskommen mußte!) seine besondere Aufmerksamkeit auf die „Form“ dieser Kirchenversammlung richten. Damit muß er sich der konkreten Handhabung des Instruments widmen, das diese gemäß einer ehrwürdigen kirchlichen Tradition wichtige kirchliche Organisationsinstanz ihren Teilnehmern an die Hand gab. Mit Recht geht Vf. davon aus, daß die für die Versammlung zuerst gesuchte „Form“ keineswegs als fertige Rezeptur irgendwo bereitlag, nur noch ihrer Anwendung harrend. Sie war vielmehr Schritt für Schritt von allen interessierten Kräften – und die waren in der andauernden Krise des „Großen Abendländischen Schisma“ zahlreich allererst in Verhandlungen zu konkretisieren, um zu klären, wie man ein konziliares Treffen würde realistisch veranstalten können und müssen. Die Studie legt in einem ersten Abschnitt eindrücklich dar, wie die einzelnen Beteiligten miteinander um die Lösung dieser Formfrage gerungen haben.
Ein knapper Rückblick auf die verschiedenen Methoden, die man (seit 1378) vergeblich als Ausweg aus der immer verfahreneren Lage gesucht hatte, steht am Beginn: Bekanntlich war wenige Monate nach der kurz hintereinander erfolgten Etablierung zweier Päpste die via facti (d.h. eine militärisch-politische Durchsetzung einer der beiden Seiten) nicht zuletzt am wechselhaften Waffenglück gescheitert. Auch die besonders von der französischen Krone (unterstützt von der Universität Paris) danach verfolgte via cessionis führte trotz ihrer intuitiven Plausibilität und den mit ihr verbundenen allgemeinen Hoffnungen nicht ans Ziel. Beiden Päpsten konnte ein Amtsverzicht im Interesse der Kircheneinheit weder durch drängende Beratung, noch durch politischen oder moralischen Druck abgerungen werden. Das erwies sich sogar als erfolglos, als beim Tode Clemens‘ VI. (1394) bei der fälligen Papstnachwahl in der „avignonesischen Obödienz“ alle dortigen Kardinäle im traditionellen Konklave für den Fall ihrer eigenen Wahl in einer ‚Wahlkapitulation‘ einen Rücktritt vom Amt eidlich zusicherten, sofern der („römische“) Gegner den gleichen Schritt vollziehe. Damit schien zunächst ein Ende des Schisma gesichert: Seit einem vollen Jahrhundert (seit der Wahl Clemens‘ V. 1305) hatte mit Ausnahme der das Schisma begründenden Wahl Urbans VI. (1378) niemand mehr die Zweidrittelmehrheit des Kollegs erreicht, der nicht als Kardinal dem Wahlgremium selbst angehörte. Doch der dann Gewählte (und später alle Päpste in gleicher Situation nach einer Wahlkapitulation) wußte sich der bald regelmäßig zuvor abgeleisteten Selbstverpflichtung immer wieder zu entziehen – auch dann, als das römische Kollegium nach dem Tode Bonifaz‘ IX. bei der Wahl Innozenz‘ VII. (1404) und nach dessen Tod zwei Jahre später (1406) bei der Wahl Gregors XII. (dem avignonesischen Vorbild nacheifernd) den Kardinälen im Konklave ebenfalls eine ‚Wahlkapitulation‘ abverlangte. Quälend komplizierte Verhandlungen zwischen beiden aktiv agierenden Päpsten folgten zwar, es kam auch zu mühsam getroffenen Absprachen, jedoch verhinderten Winkelzüge und Ausflüchte immer wieder das allseits erhoffte Ergebnis eines Vollzugs der Versprechungen.
In der Konsequenz solch frustrierender Erfahrungen gewann ein weiterer neuer Versuch breitere Resonanz: Die via concilii erschien auf einmal zunehmend als das Gebot der Stunde. Nicht nur die abtrünnigen Kardinäle beider Obödienzen, auch die Päpste auf ihrer Flucht vor dem feierlich beschworenen Amtsverzicht erinnerten sich dieses in den drei Jahrzehnten seit 1378 bereits zwar hin und wieder als Weg zur Beseitigung des Schismas vorgeschlagenen, in Schüben immer wieder auch umstritten diskutierten, jedoch in der praktischen Politik noch nie ernsthaft aufgegriffenen Mittels einer Beendigung der Krise. Hier setzt das vorliegende Buch ein, das (wie der Titel korrekt formuliert) „Das Konzil von Pisa und die Lösung des Großen Abendländischen Schismas“ untersuchen will. Vorlegen will es eine Analyse des (unterschiedlichen) Verständnisses dessen, was damals unter einem ‚Schisma‘, einer Kirchenspaltung verstanden wurde und wie nach der Meinung der Zeitgenossen ein Konzil aussehen sollte, das die seit der Urkirche und dem Neuen Testament immer wieder beschworene Einheit der Kirche wieder erreichen könnte.
Der erste größere Abschnitt stellt die Konzilsvorstellungen für die Zeit von 1378 bis 1408 vor. Dabei geht Vf. systematisch und chronologisch vor bei einer peniblen Prüfung der Briefe, Memoranden und Traktate, die er auswertet, indem er geduldig deren (unterschiedliche) Konzilsvorstellungen knapp beleuchtet. Auf einmal jedenfalls füllte sich die kirchliche Welt mit Konzilsprojekten. Eine Schwierigkeit bestand freilich schon darin, daß niemand mehr genau wußte, wie ein Konzil – und erst recht ein Konzil ohne einen allgemein anerkannten Papst versammelt werden könne, was seine angemessene „Form“ sein könne und müsse. Das letzte ‚Allgemeine Konzil‘ der lateinischen Kirche hatte fast ein ganzes Jahrhundert zuvor (1311/1312 in Vienne) getagt. Normen des Kirchenrechts im Corpus Iuris Canonici waren nicht allzu zahlreich und auch nicht sehr präzise. Insbesondere gab es nur wenige Hinweise auf die Entscheidungskompetenz eines Konzils in einem bisher noch niemals aufgetretenen Streitfall zwischen der Versammlung selbst und dem Papst, ihrem von der Tradition im Mittelalter vorgesehenen Leiter. Die vorliegende Studie hat das Verdienst, hier einen wichtigen Ansatzpunkt für die (unterschiedlichen) Bestrebungen in der damaligen Situation zu identifizieren und namhaft zu machen: Sie findet dies in der unterschiedlichen Antwort auf die Frage, was ein ‚Schisma‘ für die Kirche, für ihre Amtsträger und für die Gläubigen bedeutete. Den springenden Punkt, der die unterschiedlichen Konsequenzen insbesondere bei den ihrem Papst abtrünnig gewordenen Kardinälen und den von diesen überrascht verlassenen Päpsten erklären kann, findet er in einer grundverschiedenen Auffassung von dem, was ein ‚Schisma‘ ausmacht und wie darauf zu reagieren sei. Deutlich veränderten sich damals, so stellt er fest, die Auffassungen, wie die Verantwortung, die als ‚Schuld‘ an der ‚Zerspaltung‘ den daran beteiligten ‚Schismatikern‘ zugerechnet werden müsse. Letztendlich stand damit das gesamte Kirchenverständnis neu zur Diskussion. Bisher hatte man (vor allem zuletzt im Anschluß an Gratians Dekret und an Erörterungen der Theologen) aufgrund der dringenden Mahnungen im Neuen Testament und bei den Kirchenvätern bei jedem „Schismatiker“ das schuldhafte Verlassen der kirchlichen Einheit unterstrichen: Der Ruf etwa des Epheserbriefs zur Einheit hatte schon in der Alten Kirche dazu geführt, jede „Spaltung“ zu verwerfen und alle „Schismatiker“ zu verurteilen, die schuldhaft die Kircheneinheit zerstörten und im hartnäckigen Festhalten an der Spaltung sich immer stärker und schließlich auch förmlich einer „ketzerischen“ Devianz schuldig machten. Diese Schuld fiel dabei auf die Anführer der organisatorischen Spaltung ebenso zurück wie auf deren Anhänger und deren Untergebene. Die gesamte gegnerische Kirchenpartei konnte also als „Schismatiker“ qualifiziert werden, als schuldhaft die Einheit verfehlend. Jetzt dagegen wurde unter dem Druck der sich verschärfenden Sachlage (zumindest tendentiell) stärker differenziert: „Schismatiker“ war unangesehen einer eigenen aktiven Teilnahme am Streit derjenige, der sich absichtlich und bewußt der Einheitsforderung widersetzte. Damit aber konnte die Mehrheit der Gläubigen, ja eigentlich konnten sämtliche Christen der verschiedenen ‚Obödienzen‘ mit der einzigen sicheren Ausnahme des jeweiligen (päpstlichen) Hauptes dem Vorwurf schuldhafter Begünstigung des Schisma entgehen, ein plausibles Fazit.
Als die Kardinäle beider Kardinalskollegien es nicht vermochten, die beiden Päpste zu einem Vollzug des in ihren Wahlkapitulationen eidlich zugesagten Amtsverzichts zu bewegen, wandte sich die Mehrheit beider Kollegien von dem jeweils eigenen Papst ab. Man trat in Verhandlungen mit den Kardinälen der Gegenseite, um die Einheit der Kirche zu suchen. Auf der Grundlage einer geduldigen Analyse vielfältiger und vielschichtiger Quellen entwickelt die Studie die von diesem Wendepunkt an zu beobachtenden allmählich immer deutlicher in Memoranden, konkreten Propositionen und Programmen sich abzeichnenden Konzepte, wie ein angezieltes ‚Konzil‘ abgehalten werden könne und solle. Lebhaft erörterte man die Vorbedingungen eines Erfolges und die Voraussetzungen, unter denen das erhoffte Konzil zu seiner Arbeit zusammentreten könne und wie und von wem dazu einzuladen sei. Daß sich die beiden Päpste jetzt ihrerseits zunehmend darum bemühten, von sich aus in ihrer jeweiligen eigenen Obödienz durch eine Kirchenversammlung ihre je eigenen Kirche gegen den ‚schismatischen‘ Gegner in Stellung zu bringen, kann dabei nur noch als letztlich aussichtsloses Rückzugsgefecht wahrgenommen werden. Von der Forschung wurde das bisher auch immer wieder so empfunden. In neuer Weise legt die Studie nun dar, wie sich damals in relativ kurzer Zeit die Zielvorstellungen zuspitzten. Hatte man zuerst, bevor noch die Päpste von der Mehrheit ihres Kollegiums verlassen waren, d.h. als sich die Kardinäle noch in den wechselseitigen Verhandlungen der beiden Päpste auf ein zukünftiges Aktionsprogramm einigen wollten, offenbar noch vorherrschend die traditionelle Vorstellung vor Augen, gemäß der jede der beiden Obödienzen eine eigene konziliare Versammlung abhalten sollte, freilich zugunsten einer möglichen Kommunikation beider Parteien zunehmend vorgestellt in möglichst enger örtlicher Nähe zueinander. Hier sollten dann die beiden Päpste ihren Amtsverzicht in ihrer eigenen Versammlung leisten, woraufhin dann durch die gemeinsame Wahl eines neuen unzweifelhaften Papstes das kirchliche Schisma gemeinsam beendet werden könne. Doch nach dem Bruch der Kardinalsmehrheiten mit den beiden Päpsten wurde immer deutlicher sichtbar, daß dieser Weg nicht zum erwünschten Ziel führen könne, da er die bisher geltende Situation zunächst nicht grundlegend veränderte, in der es immer wieder zuletzt auf die Entscheidung der beiden Päpste selbst ankam, die sich nur allzu willig dieser von ihnen zwar eidlich versprochenen, doch immer wieder perhorreszierten Notwendigkeit entziehen konnten, was die bisherigen Erfahrungen evident machten.
Die ‚Form‘, die man jetzt für die angestrebte via concilii fand und in einem komplexen Prozeß von durchaus unterschiedlich interessegeleiteten Diskussionen, Verhandlungen, Entscheidungen und in diplomatischen Aktionen zwischen den Konfliktparteien auch zunehmend verfolgte, erschien nur durch ein Abrücken von dem bisher vorherrschenden traditionellen Modell eines vom Papst – als dem einzig legitimen Nachfolger des princeps apostolorum Petrus geleiteten und moderierten Kirchenversammlung erreichbar. Das wird nicht zuletzt an einer ausführlichen Erörterung der berühmten „Postillen“ der (Heidelberger) Berater des deutschen Herrschers und „Rex Romanorum“ Ruprecht von der Pfalz (S. 350 – 365) deutlich. Die geduldige und detaillierte Nachdenklichkeit mit der das Gewicht der Probleme erwogen wurde, die sich aus den komplexen Traditionen und gleichermaßen aus den damaligen Zeitumständen ergaben, läßt in dem Buch ein tiefenscharfes Bild der Situation entstehen, die durch die Erhellung verschiedener Demarchen, unterschiedlicher Programme und Vorschläge eine lebhafte Beleuchtung erfährt. Vf. macht deutlich, daß nach jahrzehntelangen Versuchen, mit dem traditionsgeleiteten Handhabung der Krise als eines traditionell verstandenen ‚Schismas‘ (in welcher der jeweils über seine ‚Obödienz‘ gebietende Papst den Gegner und dessen Anhänger jeweils als ‚Schismatiker‘ behandelte, verurteilte und feierlich verfluchte, die die kirchliche Einheit zerstörten und die eben wegen dieses andauernden Verweilens im ‚Schisma’, wegen ihres schuldhaften (weil selbstgewählten) Anschlags auf die kirchliche Einheit geradezu als Ketzer zu gelten hätten.
Das Buch benennt diese Vorstellungsverschiebung mehrfach mit dem unschönen und irreführenden Kunstwort „Schismatologie“ und erklärt damit diese neu akzentuierte Akzentverschiebung in der allgemeinen Vorstellungsgeschichte geradezu durch die ‚Erfindung‘ einer neuen wissenschaftlich analytischen Disziplin. Damit jedoch greift sie m.E. viel zu hoch: Man hatte doch nur die offensichtlich unpassenden Teilstücke eines traditionellen Mechanismus ersetzen und umgruppieren müssen, um damit den alten Vorwurf mit neuen Schuldzuweisungen guten Gewissens aufrecht erhalten zu können. Die lange Geschichte des langdauernden Widerstandes von Papst Clemens VII. in seiner ‚avignonesischen‘ Obödienz gegen die Konstanzer Entscheidungen sollte doch noch Chancen und Gefahren einer noch möglichen Partizipationsverweigerung überdeutlich anzeigen.
Für die vorliegende Studie bildet die Wahrnehmung dieser Akzentverschiebung in der Schuldzuweisung aber den Ausgangspunkt für eine genaue Nachzeichnung unterschiedlicher für sich jeweils komplexer Verhandlungspositionen und führte im Ergebnis zu diffizilen Absprachen, die mit großer Geduld aus kritisch präparierten und im Einzelnen z.T. plausibel neu bewerteten oder auch nur chronologisch genauer angesetzter Quellenzeugnissen gewonnen, mit Geduld und nuanciert dem Leser vorgestellt werden. Davon profitieren insbesondere die protokollartigen offiziösen und privaten Aufzeichnungen über den Verlauf der einzelnen „Sessionen“ des Konzils im Dom von Pisa, die in dieser Studie an Konturschärfe und Charakter sichtbar gewinnen. Hier muß jedoch diese Feststellung (die zugleich eine Lektüreempfehlung sein soll) genügen.
Die „Form“ des Pisaner Konzils gewinnt in der Studie spürbar an Konkretion und damit wird auch die Vorbildfunktion dieser konziliaren Verhandlungen auf einer papstlosen bzw. gegen die zwei Päpste der beiden Obödienzen als der vieldiskutierten Voraussetzung für den häufig etwas abrupt (und damit letztendlich ‚unhistorisch‘) gefeierten ‚Erfolg‘ des Folgekonzils in Konstanz (1415 1418) um Vieles einsichtiger, ganz abgesehen davon, daß die Menge nur ungenau eingeordneter Zeugnisse das historische Urteil stark behindert hat. Hier hilft das vorliegende Buch zu weitaus mehr Klarheit.
Es geht nicht an, unseren bereits allzu ausgedehnten Bericht durch eine detaillierte Beschreibung des weiteren Buches zu verlängern. Darum hier nur der knappe Hinweis, daß sich im Fortgang noch eingehende Überlegungen anschließen zu möglichen Vorbildern der „Form“ des Pisaner Konzils, die durch geduldigen Vergleich etwa besonders im procedere des Konzils der ‚avignonesischen Oboedienz‘ Benedikts XIII. (in Perpignan 1408 – 1409) gefunden werden. Geschäftsordnung und Verhandlungen des Pisaner Konzils (25.03. – 07.08.1409) werden ausgeleuchtet und dabei insbesondere Gewicht und Gestaltung der sessiones generales und der diese begleitenden Verhandlungen. Damit kann in Anknüpfung und Widerspruch eine erkennbare Wirkung dieser real doch gescheiterten (von den Gegnern gern als conciliabulum und „Afterkonzil“ verurteilten) konzilaren Versuchs des avignonesischen papa luna in die Erfolgsgeschichte des vieldiskutierten „Konziliarismus“ einbezogen werden. Insgesamt wird durch eine genauere Beschreibung der „Form“ der Pisaner Versammlung die berühmte zeitgenössische Bemerkung mit neuer Anschauung erfüllt, mit der Kardinal Guillaume Fillastre (d. Ä.) seine Gesta concilii Constantiensis markant eröffnet hat: „Origo generalis concilii Constanciensis ex Pisano concilio cepit.“
Eine letzte Anmerkung noch zu den polemisch „resumierenden Überlegungen“ am Ende (S. 715 - 742). Hier begründet Vf. seine Zurückhaltung gegenüber dem Begriff „Konziliarismus“. Er unterstreicht insbesondere, daß die Termini „Konziliarismus“ oder „konziliare Theorie“ (u. dgl.) von Beginn an umstritten waren und immer neue Präzisierungsversuche bis in die jüngste Vergangenheit hinein niemals ein allseits befriedigendes Ergebnis erbracht hätten, während jedoch ebenso wenig auf diese Begriffe verzichtet werde. Das Narrativ „Konziliarismus“ (u. dgl.) begründe immer wieder die Vorstellung, „die großen Konzilien des 15. Jahrhunderts seien allesamt Ausdruck, Umsetzung und Anwendung der sogenannten ‚konziliaren Theorie‘, ja eines ‚Konziliarismus‘“ gewesen (S. 719), also Versuche der unmittelbaren Praktizierung eines theoretischen Konzepts, das sich im Widerstreit zu seinem Gegensatz, dem „Papalismus“ in einem dauerhaften Ringen um die entscheidende Machtstellung in der Kirche abgearbeitet habe. Ein derartiges Konzept jedoch, eine solche „politische Theorie“ habe gar nicht vorgelegen, da die Vorstellungen darüber, was ein „Konzil“ sei und was es leisten könne, zunächst begrifflich ganz unbestimmt und sehr different waren, sodaß eine „konziliare Theorie“ bei der historischen Quellenanalyse heuristisch keine sichere Funktion habe. Demgegenüber bleibt doch festzuhalten, daß es keineswegs nur eine Frage der Praxis war, wenn die Zeitgenossen in unterschiedlicher Weise ihre Hoffnungen auf ein ‚Konzil‘ der Kirche setzten. Auch wenn ihre konkreten Vorstellungen eine geradezu gewaltige Variationsbreite behielten, gehört doch die Vorstellung einer Versammlung der Gemeinde (bzw. ihrer Vertreter) mit dem Ziel einer Besprechung der in der Kirche entstandenen Probleme zu den ältesten Überlieferungen der kirchlichen Gemeindeordnung, wie allein das sogenannte „Apostelkonzil“ zeigt (vgl. Galaterbrief 2; Apostelgeschichte 15). Sie ist eine genuin „ekklesiologische“ Frage und gehört zur „Theoriegeschichte“, welche die Innenansicht und damit das Selbstbewußtsein der Kirche als der universitas fidelium markiert, so umstritten im Einzelnen die Versatzstücke der konkreten ‚Form‘ bei den Zeitgenossen im Einzelnen auch gewesen sein mochten. Dabei ist freilich zu beachten, daß der vieldiskutierte „Konziliarismus“ im Sinn einer von vorneherein dem Papst gegenübergestellten Entscheidungsinstanz der Gesamtkirche kein mittelalterlicher Quellenbegriff ist. Er ist vielmehr bereits terminologisch zunächst ein Konstrukt neuzeitlicher Rückschau auf Konflikte mittelalterlicher Kirchenparteien, die sich erst nach den Konzilien von Pavia/Siena (1323/1324) und insbesondere von Basel (1431-1449) als nachträgliche Verurteilung (und damit einer negativen Wertung) einer der beiden Seiten durchsetzen konnte. Eine „Theoriegeschichte“ handelt nicht von abstrakt bereitliegenden Patentrezepten, die nur noch auf die Praxis gestülpt werden müssen, sie untersucht vielmehr (glasklare oder verschwommene) Vorstellungskomplexe, die Zusammenhänge der Lebenswelt in einsichtiger (und damit oft durch Traditionen vorformulierter) Ordnung sortieren. Wie gerade die geduldige Untersuchung Eßers über einen längeren Zeitverlauf detailliert zeigen kann, lohnt es sich durchaus, dem Streit um eine Konkretion solcher Komplexe nachzuspüren, die nach den zwar unterschiedlichen, aber doch immer deutlicher greifbaren Auffassungen der Zeitgenossen das Versprechen einer gelingenden Lösung des gordischen Knotens des (andauernden) „Schismas“ – ebenfalls ein „theoretischer“ Begriff der Ekklesiologie – zu verheißen schien.
Jürgen Miethke

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