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NS-Täter zwischen Gestapo und pfälzischer Geschichtsforschung

Karl Richard Weintz (1908-2010)


Rezensent(in): Ruppert Karsten

Erscheinungsjahr: 2023
Autor(en): Müsegades Benjamin
Erscheinungsort: Ubstadt-Weiher

Ende 2020 hatten Benjamin Müsegades die Widersprüche stutzig gemacht, die sich mit dem Namen Karl Richard Weintz verbanden. Während er in der Pfalz als honoriger Rechtsanwalt und Förderer der regionalen Geschichtsforschung bekannt war, war er in Forschungen zu den Institutionen des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparats nicht unentdeckt geblieben. Herausgekommen ist eine Studie sowohl zu einem NS-Täter als auch zur Landesgeschichte der Pfalz. Sie verfährt chronologisch entlang des Lebenslaufes, der überzeugend in den Gang der allgemeinen Geschichte eingebettet wird.
Gleich zu Beginn wird ein auch später immer wieder bemühtes Deutungsmuster erkennbar. Weintz wird als sozialer Aufsteiger verstanden, der es als Enkel eines Handwerkers und Sohn eines Justizinspektors als erster zu akademischen Ehren gebracht hat. Seine spätere politische Orientierung wird unter anderem auf seine Sozialisation in Neustadt zurückgeführt, auf die auch dort empfundene nationale Demütigung als Folge der Niederlage im Weltkrieg und der französischen Besatzung wie den Anschluss an die völkische Jugendbewegung. Während seines 1928 in München aufgenommenen Jurastudiums bewährte er sich als Mitglied des nationalsozialistischen Studentenbundes, ab 1929 auch der Partei und der SA, in Straßenkämpfen.
Nach dem erst im zweiten Anlauf zu Beginn des Jahres 1932 bestandenen Juraexamen vereinbarte er mit dem Rechtshistoriker Konrad Beyerle eine Dissertation über ein Thema der pfälzischen Stadtgeschichte im Spätmittelalter. Warum es ihn zu diesem Mitgestalter der Weimarer Reichsverfassung und führenden Mitglied einer „Systempartei“ zog, kann Müsegades nicht klären. Weintz veröffentlichte ein Leben lang kleinere Studien zu diesem Thema, in denen er bis 1945 die von ihm den Herzögen von Zweibrücken und den Kurfürsten von der Pfalz unterstellte antijüdische Politik stets besonders lobte. Seine Dissertation hat er niemals abgeschlossen.
Während seines Referendariats hat er sich nach der Machtergreifung in der Pfalz im Gaunachrichtendienst der Überwachung politischer Gegner wie auch von Parteigenossen gewidmet. Dabei traten Charakterzüge zutage, die sich immer wieder zeigen sollten und selbst in der Partei übel auffielen. In Selbstüberschätzung und Realitätsverlust warf er Gauleiter Josef Bürckel finanzielle Unredlichkeiten und einen ausschweifenden Lebensstil vor. Den ihm drohenden dreijährigen Parteiausschluss in einem von diesem angestrengten Gaugerichtsverfahren konnte der junge Parteigenosse nur durch eine offizielle Entschuldigung abwenden. Sonst wäre der bewährte Schnüffler nicht am 1. Oktober 1935 als hauptamtlicher Mitarbeiter in den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) übernommen worden.
Nach der am 13. März 1936 mit „ausreichend“ bestandenen Großen Juristischen Staatsprüfung und seinem Beitritt zur SS wurde er einige Monate später von der Geheimen Staatspolizei Berlin als Assessor übernommen. Wie auch danach öfters muss Müsegades hier resigniert feststellen, dass die konkrete Tätigkeit kaum mehr herausgearbeitet werden kann. Dennoch lässt er keinen Zweifel daran, dass Weintz aus Überzeugung an der Verfolgung von Gegnern des Regimes beteiligt war. Wenn er ihm dabei wie auch in den folgenden Jahren eine führende Rolle zubilligt, so widerspricht dies dem Befund von Müsegades und anderen, dass die Karriere von Weintz im Dritten Reich insgesamt eher unter- als überdurchschnittlich war. Das könnte, wie angedeutet wird, an seinem Charakter gelegen haben: Selbstüberschätzung, Neigung zu Querulanz und Selbstmitleid, Unfähigkeit zur Einordnung und Selbstkritik. An mangelnder einwandfreier weltanschaulicher Einstellung und Loyalität zum Regime lag es jedenfalls ebenso wenig wie an fehlendem bedingungslosem Aktivismus.
Auffallend der häufige Wechsel seiner Positionen. Oktober 1937 stellvertretender Leiter der Staatspolizeistelle Darmstadt und zugleich SS-Oberscharführer, im Mai des Folgejahres Staatspolizeistelle München, von wo er nach nicht mal einem Jahr nach Wien abgeordnet wurde. Dort war er mit Maßnahmen gegen Juden und die Kirchen befasst, und war – eine besondere Vertrauensstellung – für die Bewachung des wichtigsten politischen Gefangenen in Österreich zuständig, des ehemaligen Kanzlers Kurt Schuschnigg, der sich dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland widersetzt hatte. Nach einer kurzen Abordnung zur Bekämpfung von Kommunisten im „Protektorat Böhmen und Mähren“ kehrte er im Spätsommer 1939 nach München zurück. Noch im selben Jahr wurde er zum Regierungsrat und zum Hauptsturmführer der SS befördert. Für das Regime machte er sich dort dadurch besonders verdient, dass er einen katholisch-monarchischen Widerstandskreis aufdeckte. Von dessen Mitgliedern wurde einer hingerichtet und mehrere zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
Der höchsten Stufe seiner Karriereleiter folgte der Aufstieg im nationalsozialistischen Vernichtungs- und Verfolgungsapparat. Im Frühjahr 1940 wurde er für das Passwesen in den besetzten Gebieten im Reichssicherheitshauptamt zuständig. Er gab nach dem Krieg vor, bis zu dessen Ende hier gearbeitet zu haben; gelegentlich ersetzte er das Reichssicherheitshauptamt durch das Reichsinnenministerium. In Wahrheit ist er Ende 1942 in den berüchtigten Einsatzgruppen im Osten nachweisbar. Nach etwa einem Jahr wechselte er zum höheren SS- und Polizeiführer nach Posen. Müsegades lässt keinen Zweifel daran, dass Weintz nun „direkt in die nationalsozialistische Vernichtungs- und Ausbeutungspolitik, vor allem in den besetzten Gebieten, involviert war.“ (S. 63). Allein die Einsatzgruppe B, der er angehörte, hat nach eigenen Angaben mehr als 50.000 Menschen umgebracht. Müsegades räumt aber ein, dass eine direkte Beteiligung an den Mord- und Schandtaten heute nicht mehr nachgewiesen werden kann. Nach einer kurzen nachrichtendienstlichen Tätigkeit in Wiesbaden seit der Jahreswende 1943/44 kehrte Weintz Mitte 1944 zu einem längeren Erholungsurlaub nach Neustadt zurück. Dass er dort bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen Ende Juli 1944 verblieb, sicherte ihm wohl das Überleben. Mit der Gefangennahme durch die Amerikaner am 30. März 1945 endete für ihn der nationalsozialistische Abschnitt seines Lebens.
In der Gefangenschaft strickte Weintz die Legende, hinter der er seine Vergangenheit verbarg. Er stellte seine Schwierigkeiten mit der NSDAP heraus, stilisierte sich zu einem verführten und dann bitter enttäuschten Idealisten, gab sich als unpolitischer Beamter des Innenministeriums aus und erklärte seine Mitgliedschaft in der SS als eine Übernahme gegen seinen Willen, wenn er sie denn überhaupt erwähnte. Alles andere verschwieg er. Damit war er zunächst bei den Amerikanern erfolgreich. Er tauchte bei Bekannten in Speyer unter. Von dort aus bemühte er sich mühsam um von ihm mitentworfene Leumundszeugnisse für eine rasche Entnazifizierung, was zu breit geschildert wird. Es dauerte noch zwei Jahre bis zur Eröffnung des Verfahrens, an dessen Ende ihm bescheinigt wurde, dass er seine politischen und bürgerlichen Rechte wieder ausüben dürfe.
Es hat den Anschein, als ob Weintz in der Orientierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg seine Zukunft in der Geschichtsforschung sah, obwohl ihn dazu nichts prädestinierte. Er empfahl dem kommissarischen Vorsitzenden des „Historischen Vereins der Pfalz“ und bis 1949 Direktor des Historischen Museums, Friedrich Sprater, seine „Geschichtstabellen von Rheinland-Pfalz“. Doch wenn er darauf gesetzt hatte, bei dem ehemaligen Mitglied der NSDAP und Mitarbeiter des „Ahnenerbes“ auf besonderes Verständnis zu stoßen, so sah er sich getäuscht. Nachdem Sprater die Veröffentlichung abgelehnt hatte, hat der Enttäuschte gegen ihn eine Verleumdungs- und Diffamierungskampagne gestartet, die in Vielem an sein Vorgehen gegen Bürckel erinnert. Zugleich lancierte er eine Denkschrift zur Reform des Historischen Vereins, verbunden mit Kritik an dessen dürftiger wissenschaftlicher Produktion. Er war davon überzeugt, dass ein Neuaufbruch nur mit ihm als hauptamtlichem Geschäftsführer möglich sei.
Müsegades fällt es nicht leicht, diese bizarre Affäre zu deuten, die in öffentlichen Anwürfen und einem Verleumdungsprozess gipfelte. Zweifellos war dieses Verhalten zumindest teilweise psychopathologisch. Doch wird es wohl nicht allein auf Selbstüberschätzung, gemischt mit Selbstmitleid, zurückzuführen sein. Nach der Kriegsgefangenschaft, mit immer noch angeschlagener Gesundheit, nur von den Zuwendungen seiner Mutter lebend, zunächst ohne berufliche Perspektive in einer Klemme steckend, war Weintz die Geschichtswissenschaft wohl als Ausweg erschienen.
Die angegriffene Führung des Historischen Vereins startete im Gegenzug eine Initiative, die die Spruchkammer von Neustadt veranlasste, sich den Lebenslauf von Weintz nochmals näher anzuschauen. Auch diesmal gelang es ihm, in dem viel zu breit dargestellten Verfahren den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zugute kam ihm das Landesgesetz zum Abschluss der politischen Säuberungen vom 15. Januar 1950, nach dem nur noch Verfahren von Hauptschuldigen oder Belasteten weiterzuverfolgen waren. Die Spruchkammer konstatierte eine schwere Irreführung der Behörden und hielt den Beschuldigten auch für belastet, doch nicht „im Sinne des Gesetzes“, so dass das Verfahren am 22. Februar 1951 eingestellt wurde. Kaum zwei Tage später dominierte er die Mitgliederversammlung des Historischen Vereins in einem Maß, das noch heute erstaunt. Der Verfasser glaubt, dass ihn niemand in die Schranken gewiesen habe, weil die Mitglieder des Vorstands ebenfalls alle in der NSDAP gewesen seien. Dennoch konnte der Historische Verein aufatmen. Seit sich Weintz Ende Juni 1951 in Neustadt als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, kehrte vorläufig Ruhe ein.
Der Verfasser wird wohl durch die schmale Quellenlage für die kommenden Jahrzehnte dazu verleitet, dem Anwalt ein zurückgezogenes Einzelgängertum zu bescheinigen. Dagegen spricht, dass eine gute Vernetzung sichtbar wird, er beruflich Erfolge hatte und vor allen Dingen das erworbene Vermögen. Im Zuge der in den Sechzigerjahren in Gang gekommenen breiteren und intensiveren strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern ist er noch zweimal von Staatsanwälten vernommen worden, die ihm auch diesmal zahlreiche Lügen nachwiesen, doch nicht genügend Beweise für eine aussichtsreiche Anklage zusammenbrachten.
Vermutlich, weil er sich nun als völlig rehabilitiert ansah, ging er erneut auf dem Gebiet der pfälzischen Geschichtsforschung in die Initiative. Im April 1969 schaffte er es in den Beirat der Bezirksgruppe Neustadt. Dann kam ihm 1979 ein Glücksfall zugute. Er konnte eine kinderlose Erblasserin dazu überreden, ihr Vermögen einer noch zu gründenden Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung zu vermachen. Obwohl er sich in deren offiziellen Gremien zurückhielt, hatte er auf sie durch seine Forschungsinitiativen einen von Müsegades akribisch nachgewiesenen Einfluss. Er gewann jetzt die Stellung innerhalb der pfälzischen Geschichtswissenschaft, wie er sie wohl schon immer angestrebt hatte. Die öffentliche Anerkennung zu seinem 100. Geburtstag zeigt, dass er auch die mit nicht weniger Energie angestrebte bürgerliche Reputation erreicht hatte. War es ein schlechtes Gedächtnis oder mangelndes Ehrgefühl, dass sich auch der „Historische Verein der Pfalz“ wie dessen Neustadter Ortsgruppe in die Lobredner einreihten? Beides wenig rühmlich.
Die Nachrufe nach seinem Tod im Februar 2010 im Alter von 101 Jahren unterstreichen nochmals, dass Weintz mit dem Erreichten zufrieden sein konnte. Er vermachte seiner Stiftung sein beträchtliches Vermögen. Sie hatte damit eine respektable finanzielle Ausstattung. Die Darstellung ihrer Aktivitäten verselbstständigt sich und verführt den Verfasser dazu, den Einfluss der Stiftung auf die pfälzische Geschichtsforschung doch etwas zu überschätzen.
Benjamin Müsegades stützt sich stark auf die von Weintz in den verschieden Phasen seines Werdegangs verfassten Lebensläufe. Er analysiert sie kritisch, prüft ihren Wahrheitsgehalt; er versucht, sie in die jeweiligen Zusammenhänge einzuordnen und mit anderen Überlieferungen und der jeweiligen Forschung zu überprüfen. Das führt einerseits zu Wiederholungen, doch zeigt dies andererseits ein anerkennenswertes kritisches Bewusstsein. Er hat dabei das Problem, das die gesamte Forschung zu Tätern im Nationalsozialismus kennzeichnet. Die Funktionen der jeweiligen Institutionen im Regime sind offensichtlich, doch welche Rolle die Einzelnen darin gespielt haben, lässt sich nur selten nachweisen.
Dennoch hat der Heidelberger Privatdozent für mittelalterliche Geschichte ein fulminantes Buch von hoher wissenschaftlicher Qualität vorgelegt. Er hat die Akten und Unterlagen von 21 Archiven ausgewertet und die wichtigste Forschung zum Thema verarbeitet. Das Buch überzeugt umso mehr, als den Verfasser jegliche moralische Überlegenheit, der auch nachgeborene Historiker immer wieder bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verfallen, fremd ist. Er trägt seine Ergebnisse nüchtern, frei von Wertungen, doch nicht ohne dezidierte Urteile vor. Die Studie wird auf lange Zeit das Standardwerk zu Karl Richard Weintz sein, doch muss sie nicht das letzte Wort bleiben Sie ist eine Herausforderung für die pfälzische Geschichtswissenschaft. Man kann gespannt darauf sein, wie sie diese annimmt.

Karsten Ruppert, Rez. von Benjamin Müsegades, „NS-Täter zwischen Gestapo und pfälzischer Geschichtsforschung. Karl Richard Weintz (1908-2010). Ubstadt-Weiher 2023, URL: https://www.hist-verein-pfalz.de/de/rezensionen/7/wid,1104/rezensionen.html.
Erschienen in: Pfälzer Heimat 75,1 (2024).

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