Ein Beitrag zum Verständnis eines politisch geprägten Rechtfertigungsgrundes
(Nomos Universitätsschriften, Recht, Band 1012)
Rezensent(in): Heinz Joachim P.
Erscheinungsjahr: 2022
Autor(en): Balz Sabrina
Erscheinungsort: Baden-Baden
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine rechtswissenschaftliche Dissertation, die 2022 von der Universität Saarbrücken angenommen wurde.
Die Studie befasst sich mit der Entwicklung des Begriffes Staatsnothilfe als Rechtsinstitut von 1848 bis heute mit besonderem Schwerpunkt auf der Zeit der Weimarer Republik. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist die Frage, ob die Erschießung des Separatistenführers Franz Joseph (!) Heinz im Jahr 1924 durch ein Rechtsgut, die Staatsnothilfe, gerechtfertigt und damit straffrei war.
Die Diskussion über die lange Zeit synonym verwendeten Begriffe Staatsnotwehr und Staatsnothilfe reicht weit ins 19. Jahrhundert hinein und ist vor allem in der Weimarer Zeit intensiv geführt worden. In den Nachkriegsjahrzehnten schien diese Thematik lange Zeit abgeschlossen und weitestgehend in Vergessenheit geraten, sie ist dann jedoch in jüngerer Zeit im Zuge der Terrorismusproblematik in der einen oder anderen rechtswissenschaftlichen Studie wieder aufgegriffen worden, wobei sich interessanterweise auch Stimmen finden, die im Rekurs auf die Weimarer Rechtstradition aus der Notwehr- und Nothilfefähigkeit der Güter juristischer Personen ableiten, dass es ein Recht eines jeden Bürgers gibt, den Staat gegen auf die Lebensinteressen abzielende Angriffe quasi in Notwehr zu verteidigen. Insoweit geht es um die Frage, ob bei Angriffen auf den Staat ein Rechtsinstitut Staatsnotwehr oder Staatsnothilfe gegeben ist, das auch dann besteht, wenn der Staat nicht nur als Fiskus betroffen ist, sondern die Institution des Staates durch einen Angriff als solche bedroht ist.
Damit sind auch die Fälle erfasst, in denen in patriotischer Motivation begründende politische Attentate als legitime Staatsnothilfe gerechtfertigt werden. Auch wenn diese Position in der rechtswissenschaftlichen Literatur gegenwärtig die Minderheitsmeinung ist, so ist Balz zuzustimmen, dass der vorliegende Untersuchungsgegenstand auch in der heutigen Zeit Relevanz hat, zumal das Attentat auf den pfälzischen Separatistenführer Franz Joseph (!) Heinz, wohl auch deshalb, weil eine Strafverfolgung weder im rechtsrheinischen Deutschland noch im französisch besetzten Teil erfolgte, bis dato nie Gegenstand einer ausführlichen juristischen Würdigung gewesen ist. Das von der Frankenthaler Staatsanwaltschaft auf Drängen der französischen Besatzungsmacht eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde schon bald wieder eingestellt.
Und dass sich Balz sehr intensiv und umfassend mit der diesbezüglichen Diskussion in der Weimarer Republik beschäftigt, macht im Sinne einer zur Grundlagenbeurteilung notwendigen Aufarbeitung der historischen Entwicklung und wissenschaftlichen Diskussion durchaus Sinn.
Dies gilt auch dann, wenn man Balz‘ Behauptung, dass „die Beschäftigung mit der neueren und neuesten Geschichte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von vielen Historikern als Last empfunden worden“ sei, „sodass diese sich Themen zuwandten, die zeitlich weiter zurücklagen, was sich erst nach der Wiedervereinigung geändert zu haben scheint.“ (S. 22), nicht zustimmen mag.
Bevor sich Balz mit der Kernproblematik ihrer Dissertation beschäftigt, nimmt sie sich viel Zeit: Auf die Beschreibung des Forschungsstandes und der Quellenlage in Verbindung mit der Hinführung zum Thema (S. 21-49) folgt ein zweiter, sehr umfangreicher Teil (S. 51-225), in dem das Attentat auf Franz Joseph (!) Heinz auf dem Hintergrund der pfälzischen Separatistenbewegung auf ereignisgeschichtlicher Ebene nachgezeichnet wird.
Im dritten Teil (S. 227-359) geht Balz dann auf das eigentliche zentrale Thema ihrer Dissertation, die Staatsnothilfe als Rechtsinstitut in ihrer historischen Einbindung, ein, um im vierten Teil (S. 361-455) die erarbeiteten Inhalte auf den konkreten Fall des Heinz-Attentates zu beziehen und auch juristisch zu werten.
In dem sich daran anschließenden fünften Teil thematisiert sie die Frage, ob die Staatsnothilfe in der heutigen Zeit ihre Daseinsberechtigung verloren hat (S. 457-466).
Am Ende ihrer Arbeit gibt Balz in 100 Thesen eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse (S. 467-478).
Diese Gliederung zeigt m. E. eine wenig glückliche Verteilung der Gewichte. Die ereignisgeschichtliche Darstellung erfährt eine unangemessen breite Behandlung, zumal Balz‘ Ausführungen diesbezüglich nichts Neues bringen. Die Faktenlage ist längst durch verschiedene Studien geklärt.
Im ersten Teil ihrer Dissertation will die Autorin zur Thematik hinführen, den Forschungsstand beschreiben und ihre Analysemethoden offenlegen. Das tut sie auch, allerdings sehr umständlich und weitschweifig. Manche Passagen, wie z.B. die zur deutsch-französischen Freundschaft auf dem Hintergrund eines geeinten und friedlichen Europas (S. 40f.) sind ebenso wie z.B. ihre Ausführungen zum Problem der wissenschaftlichen Objektivität (u.a. S. 41: „Gänzliche Objektivität stellt ohnehin eine Utopie in der historischen Forschung dar“; S. 43: „Schließlich ist Geschichte nie etwas nur gegebenes [sic], sondern ein Produkt des Historikers, was sich unter anderem auch auf Hypothesen und Vermutungen stützt.“) in ihrem Begründungszusammenhang nicht falsch, aber im vorliegenden Zusammenhang überflüssig.
Irritierend ist darüber hinaus, dass Balz angibt, Archivalien aus dem Landesarchiv Speyer und dem Hauptstaatsarchiv München benutzt zu haben (S. 45), diese in der einen oder anderen Fußnoten auch zitiert, aber kein Quellenverzeichnis vorlegt.
Im zweiten, sehr umfangreichen Teil ihrer Arbeit gibt Balz auf zahlreiche Literaturangaben gestützt eine Darstellung des pfälzischen Separatismus auf dem Hintergrund seiner Zeit.
Balz folgt, in dem Bemühen, ja keine Stimme zu überhören, einem wohl positivistisch zu nennendenbestreben Ansatz, sodass häufig unkommentiert gewichtige quellengesättigte Standardwerke neben bloß literaturzusammenfassenden Beiträgen in Zeitungsartikeln oder Heimatkalendern stehen. In der Folge führt dies dazu, dass zu bestimmten Fragestellungen eine Vielzahl kontroverser Meinungen aufreihend nebeneinander rücken, ohne dass eine wertende Orientierung gegeben würde. Dies sei an einem Beispiel erläutert, nämlich der Charakterisierung des Franz Josef (!) Heinz (S. 136ff.).
Balz zählt zunächst Autoren auf, die Heinz positive Eigenschaften zuweisen, um danach diejenigen anzuführen, die seine negativen Charakterzüge herausstellen. Auf diesem Hintergrund stellt sie durchaus zurecht fest, dass Heinz-Orbis in der Literatur ambivalent wahrgenommen wird.
An dieser Vorgehensweise ist allerdings kritisch anzumerken, dass nicht zwischen abwägenden quellenkritischen Urteilen heutiger Historiker und tendenziösen zeitgenössischen Charakterbildern unterschieden wird. Das zeitgenössische Klima (u.a. sei hier verwiesen auf Grimm, erschienen 1931 und Jacob, erschienen 1940) und persönliche Feindschaften (z.B. Hamm, erschienen 1930) haben natürlich die Wertungen und Urteile der Autoren beeinflusst. Darauf wäre, wenn man darauf rekurrieren will, hinzuweisen gewesen.
Die damit zusammenhängende Problematik der wegen der Zeitnähe fehlenden kritischen Distanz hat Balz durchaus gesehen (S. 32f.), daraus aber weder für ihr Literaturverzeichnis, wo sie zwischen den häufig allzu tendenziösen Arbeiten, die vor 1945 erschienen sind und den modernen Ansprüchen an wissenschaftliches Arbeiten entsprechenden Studien hätte formal unterscheiden können (Primär- und Sekundärliteratur?), noch für ihre Darstellung und Interpretation Konsequenzen gezogen.
Und im Bestreben, die Persönlichkeit des Franz Joseph (!) Heinz zu erfassen, sollte man nicht wissenschaftliche Beschreibungsversuche mit Schilderungen in der belletristischen Literatur vermischen (S. 137f.), sondern klar getrennt voneinander halten: Franz de Poldis (Pseudonym für Franz Diepold) Roman „Der Separatist“ aus dem Jahre 1927 ist für die wissenschaftliche Charakterisierung des Heinz-Orbis ebenso wenig geeignet wie die 1941 erschienene Erzählung „Ballade am Strom“ von Roland Betsch, damals Leiter des Verbandes Westmark der NSDAP-nahen Organisation „Kampfbund für deutsche Kultur“.
Nachdem Balz die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge detailliert geschildert hat, kommt sie auf S. 227 zum eigentlichen Kernthema ihrer Arbeit, indem sie den im vorliegenden Zusammenhang zentralen Begriff der Staatsnothilfe von verwandten Begriffen wie Staatsnotstand, Staatsnotrecht und Notwehrrecht gegen den Staat definitorisch zu erfassen und abzugrenzen sucht. Dies ist, wie Balz überzeugend belegt, insoweit schwierig, als in der Vergangenheit die Begriffe Staatsnotwehr und Staatsnothilfe oft synonym gebraucht, die Begrifflichkeiten wenig trennscharf verwendet wurden. Doch sie sind zu unterscheiden: Staatsnotwehr ist das Recht des Staates, in Überschreitung der gesetzlich normierten Machtbefugnisse rechtswidrige Angriffe abzuwehren.
Im Unterschied dazu definiert Balz den Begriff Staatsnothilfe als „Notwehrhilfe des Bürgers zugunsten des Staates gegen Angriffe innerhalb des eigenen Staates“. (S. 473, These 56), d.h. dass die Bürger eines Staates das Recht haben, zur Verteidigung ihres Staates zu handeln, weil dieser in einer Notwehrsituation nicht in der Lage ist, sich gegen rechtswidrige Angriffe zu verteidigen und seine Existenz zu sichern, insofern meint Nothilfe das Recht einer Person, die kein Organ des Staates ist und im Verhältnis zu diesem als dritte Partei steht, dennoch zugunsten des Staates gegebenenfalls mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzugreifen.
War diese Rechtslage auch im Falle des Attentats auf Heinz-Orbis gegeben? Darauf geht Balz im vierten Teil ihrer Arbeit ein, der nach Einschätzung des Verfassers der vorliegenden Zeilen zusammen mit der Behandlung der Frage nach der Staatsnothilfe als Rechtsinstitut den fruchtbarsten Teil der Dissertation bildet. In ihrer Argumentationsführung gelingt Balz in überzeugender Art und Weise die Einbindung eines historischen Ereignisses in juristische Problemstellungen. Dabei wird deutlich, dass in der heutigen Rechtswissenschaft die jeweilige Positionierung zu den Streitfragen Staatsnotwehr und Staatsnothilfe von den schon in der Weimarer Republik vorgetragenen Argumentationsketten ganz wesentlich beeinflusst ist. Dabei spielen Gerichtsurteile eine wichtige Rolle (S. 318-330), vor allem aber die Entscheidungen des Weimarer Reichsgerichtes: Das von 1879 bis 1945 in Leipzig ansässige Reichsgericht, der für den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständige oberste Gerichtshof im Deutschen Reich, hat am 8. Mai 1929 geurteilt, dass es ein Notwehrrecht des einzelnen Staatsbürgers gegenüber rechtswidrigen Angriffen auf die Lebensinteressen des Staates gibt, und zwar sowohl in Bezug auf Angriffe gegen die Verfassung als auch dann, wenn sich der Angriff gegen Gebietsteile des Staats richtet. Auf diesem Hintergrund „wären die Taten, wenn man damalige Wertungen zu Grunde legt, unter Umständen bezüglich der Tötung des Heinz durch Staatsnothilfe gerechtfertigt gewesen.“ (S. 453, s.. auch S. 330). Dennoch, in der Weimarer Republik gab es durchaus auch namhafte Juristen, die das Rechtsinstitut Staatsnothilfe ablehnten. Insofern wäre, meint Balz, die Verurteilung der Täter beziehungsweise ihr Freispruch „maßgeblich von der politischen Gesinnung des zuständigen Richters abhängig gewesen“ (S. 453).
In der Bundesrepublik Deutschland gehört, wie Balz klar herausarbeitet, die Staatsnothilfe nicht zum Kreis der geschützten Rechtsgüter, auch wenn dies eine Minderheit in der Rechtswissenschaft anders sieht [jüngst sogar mit konkretem Bezug auf das Heinz-Attentat: Alexander Wolf, Dr. Edgar Julius Jung – ein Rechtsanwalt zwischen Separatistenabwehr und konservativer Revolution, in: Pfälzer Heimat 74, (2023), S. 82-94, hier S. 89-91].
Balz meint, dass die Staatsnothilfe heute ihre Daseinsberechtigung verloren hat. „Die Anerkennung dieses Rechtsinstituts würde einem Sieg der Gewalt über das Recht gleichkommen. Ebendiese Anerkennung durch das Reichsgericht kann in der Retroperspektive nur als verhängnisvoll gewertet werden. Schließlich war sie eine Form der Kapitulation der Justiz vor der rechten Gewalt, durch die auch der Weg in die Hitlerdiktatur geebnet wurde“ (S. 466). Und was die Staatsnotwehr angehe, so sei diese „mit den Grundsätzen einer demokratischen Republik nicht vereinbar. Die Grundrechte würden durch die Anerkennung eines solchen Rechtsinstituts in unvertretbarer Weise beschnitten.“ S. 466).
Interessant ist auch der folgende Teil ihrer Arbeit, in dem Balz zu aktuellen politischen Forderungen bzw. Behauptungen Stellung nimmt. Können sich radikale Tierschützer in ihrem rechtswidrigen Handeln auf eine Nothilfe zugunsten von Tieren berufen? Das sei in juristischer Argumentation abzulehnen und nach geltendem Recht nicht möglich, meint Balz.
Auch wenn Balz dies nicht thematisiert, scheint in logischer Weiterführung ihrer Argumentationskette klar, dass man diese Position auch auf das Handeln radikaler Klimaschützer übertragen kann und nach heutigem Rechtsstandard auch muss.
In einem letzten Kapitel ihres Buches formuliert Balz noch einmal eine Zusammenfassung ihrer Dissertation, und zwar in 100 Thesen. Die Studie wird durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis beschlossen. Was aber trotz der wirklich zahlreichen Literaturbelege dennoch verwundert: Ein kurzer Blick in den Wikipedia-Artikel zu „Franz Joseph Heinz“ hätte informiert, dass zumindest die Schreibung des zweiten Vornamens gemäß Geburtsurkunde korrekt in „Joseph“ zu ändern gewesen wäre. Der geneigte Leser vermisst darüber hinaus einen Hinweis auf den gerade im vorliegenden Zusammenhang höchst interessanten Diskurs zwischen Gräber/Spindler auf der einen und Matthias Schneider auf der anderen Seite [Matthias Schneider, Wer nur die Hälfte erfährt, weiß gar nichts. Kritische Anmerkungen zu Gräber / Spindler, in: Pfälzer Heimat 57, (2006), S. 19-24 und Gerhard Gräber / Matthias Spindler, Untauglicher Versuch zur Rettung einer Heldenerzählung. Eine Erwiderung auf Matthias Schneiders „kritische] Anmerkungen“ zu unserem Buch „Die Pfalzbefreier“ in Pfälzer Heimat 57 (2006), in: Pfälzer Heimat, 57 (2006), S. 75-79].
Noch eine eher marginale Anmerkung: Wenn man als Wissenschaftler dem Gedankengang eines anderen Autors über eine längere Textpassage folgt, die Überlegungen anderer nicht eingestreut sind, muss man nicht jeden Satz mit einer Fußnote belegen. Es genügt, wenn man die übernommenen Argumente und Gedanken am Ende des Absatzes mit dem Hinweis auf den geistigen Autor kennzeichnet. Balz hätte sich von den 2463 (!) Anmerkungen einige sparen können, was auch dem Lesefluss gedient hätte, denn da Balz in einem eher parataktischen Satzbaustil schreibt, wirkt der Lesefluss durch die vielen Anmerkungen noch abgehackter, als er es durch den bevorzugten Satzbau ohnehin schon ist.
Die in der vorliegenden Rezension ausgeführten kritischen Punkte ändern nichts an den insgesamt positiv zu bewertenden, weil fruchtbringenden Ausführungen der Autorin.
In Bezug auf ihr Kernthema hat Balz die wissenschaftliche Diskussion ohne Zweifel weiter gebracht!
Joachim P. Heinz, Rez. von Sabrina Balz, „Die Erschießung des Separatistenführers Heinz-Orbis als Akt der Staatsnothilfe? Ein Beitrag zum Verständnis eines politisch geprägten Rechtfertigungsgrundes (Nomos Universitätsschriften, Recht, Band 1012), Baden-Baden 2023, URL: https://www.hist-verein-pfalz.de/de/rezensionen/7/wid,1101/rezensionen.html.
Erschienen in: Pfälzer Heimat 75,1 (2024).