Ellerstadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Rezensent(in): Lüger Heinz-Helmut
Erscheinungsjahr: 2023
Autor(en): Schwarzweller Martin
Erscheinungsort: Ellerstadt
Das Buch von Martin Schwarzweller ist weit mehr als eine klassische Dorfgeschichte: Auch wenn die Themenschwerpunkte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstammen, beschränken sich die Ausführungen keineswegs auf die Vermittlung einzelner historischer Ereignisse oder Personen. Der Autor versteht es, anhand lokaler Begebenheiten den Blick für größere Zusammenhänge zu öffnen und die Aufmerksamkeit auf Kontexte zu lenken, die auch heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Geschichtliches mit der Gegenwart zu verknüpfen, Persönliches und Singuläres als Ausdruck von Hintergründigem zu erklären, das macht die Stärke vieler Darstellungen aus. So viel sei vorausgeschickt.
Zwei Themengebiete stehen im Mittelpunkt dieser Publikation: der Erste Weltkrieg und die NS-Zeit. Ausgangspunkt für den erstgenannten Bereich (S. 6-50) ist das Schicksal eines Ellerstadter Soldaten, der Anfang 1915 im Alter von 20 Jahren an die Front beordert wurde und der anderthalb Jahre später beim Sturm auf Fleury (bei Verdun) den Tod fand. Das kurze Leben dieses Soldaten steht stellvertretend für eine ganze Generation junger Männer. Zur Sprache kommen in dem Zusammenhang nicht nur konkrete Details zum Kriegsgeschehen; einleitend gibt es einen Überblick zur allgemeinen Situation im Deutschen Reich, zu den Lebensbedingungen und den politischen Verhältnissen in der bayrischen Pfalz sowie zu den örtlichen Gegebenheiten in Ellerstadt. Für den Leser entsteht das plastische Bild eines Umfelds, das es für Heranwachsende in dieser Zeit zu bewältigen galt. Das Attentat von Sarajewo im Juni 1914 bedeutet dann in der Folge einen kompletten Wandel der Lebensbedingungen in Europa, im Deutschen Reich und natürlich auch in Ellerstadt – und dort besonders für die zum Krieg eingezogenen Soldaten.
In diesem Kapitel wird Geschichte in all ihren Auswirkungen greifbar und nachvollziehbar, bis hin zu den ganz individuellen Konsequenzen. In Biographischem und Lokalhistorischem spiegeln sich – am Beispiel des 800-Seelen-Ortes – letztlich globale oder zumindest grenzüberschreitende Vorgänge wider. Mit stilistischem Gespür und großer Sachkompetenz gelingt es dem Verf., die betreffenden Sachverhalte eindrucksvoll zu vermitteln. Ganz verschiedene Handlungsstränge werden miteinander verwoben und ergeben ein komplexes, aber dennoch anschauliches Gesamtbild. Gestützt durch zahlreiche Illustrationen (Fotos, Urkunden, Plakate, Postkarten, Sitzungsprotokolle, Landkarten) und durch entlarvende Berichte (z.B. über das von Fritz Haber entwickelte und von der BASF massenhaft produzierte Giftgas) entsteht eine Dokumentation, die manchen Leser nachdenklich machen oder gelegentlich auch irritiert zurücklassen dürfte.
Der zweite Themenbereich ist der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet (S. 51-126). Eine wichtige Grundlage der Darstellung bilden Aussagen von Zeitzeugen, wobei der Verf. sogleich die Notwendigkeit einer gewissen methodischen Distanz betont:
„Bei Erinnerungen von Zeitzeugen, zumal über Ereignisse, die so lange zurückliegen, muss man immer bedenken, dass es sich um subjektive Erfahrungen handelt. So weit wie möglich wurden die Aussagen vom Autor anhand von Archivmaterial überprüft. Allerdings sind Zeitzeugen keine Historiker. Sie können ,nur‘ berichten, wie sie etwas erlebt haben und wie sie sich aus ihrer heutigen Sicht erinnern. Tatsächlich Erlebtes kann sich mit später Gehörtem vermischt haben [..].“ (S.51)
Diesem kritischen Vorbehalt ist ohne Frage zuzustimmen, und es leuchtet ein, wenn der Verf. in den folgenden Abschnitten auf vielfältiges Quellenmaterial zurückgreift und dabei die Berichte von Zeitzeugen zusätzlich zur Veranschaulichung heranzieht. Der Leser wird gleichsam parallel darüber informiert, was auf nationaler, regionaler und auf lokaler Ebene geschieht. Von besonderem Interesse ist hier zunächst die Zeit vom 30. Januar 1933 bis zu den Wahlen vom 5. März bzw. dem sog. „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933. (In Ellerstadt erreichte die NSDAP übrigens einen Stimmenanteil von 91,1%.) Welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen für den Alltag der Menschen? Der Verf. skizziert nicht nur die Entstehung der NSDAP und ihren Aufstieg in der Pfalz, sondern schildert detailliert, welche Folgen die Gleichschaltung konkret hatte, welche Formen die rassistische, vor allem antisemitische Propaganda annahm, wie speziell jüdische Bürger ausgegrenzt, schikaniert oder boykottiert wurden und wie es zu einer allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft kam.
So erfährt man u.a., was unter einem „Stürmerkasten“ zu verstehen ist, wie es politisch Andersdenkenden erging, wie zielorientiert und mit welchen Maßnahmen Jugendliche mit Hilfe von HJ und BDM für das System vereinnahmt wurden. Breiten Raum nehmen die Feindseligkeiten und Gewalttätigkeiten rund um die Reichspogromnacht vom November 1938 ein, ebenso die Deportations-Politik, der immer mehr vor allem jüdische Bürger zum Opfer fielen. Auch hier begnügt sich der Verf. nicht mit allgemeinen Angaben, sondern schildert eindringlich, wie Deportationen administrativ vorbereitet und konkret durchgeführt wurden, wie die Verhältnisse, die Lebensbedingungen in den Lagern, z.B. in Gurs, aussahen, was mit den Habseligkeiten der Deportierten geschah, welches Schicksal die Opfer erwartete. Im Unterschied zu vielen anderen einschlägigen Publikationen werden die verantwortlichen Funktionsträger namentlich genannt, ihre Handlungen überzeugend dokumentiert (einschließlich ihrer Karrieren nach 1945). Nichts wird beschönigt oder relativiert; man bekommt eine gute Vorstellung davon, was „staatsfeindliche Betätigungen“ in der Zeit bedeuteten und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen konnten. Insgesamt wird deutlich, mit welch fanatischer Erfüllungsbeflissenheit oft gehandelt wurde und mit welchem Eifer man auf den verschiedensten Ebenen versuchte, mehr als nur einer unumgänglichen Pflichterfüllung zu genügen. Letztlich sind es die vorgelegten Dokumente, die eine eindeutige Sprache sprechen.
Ein drittes Kapitel „Gedenken auf dem Ellerstadter Friedhof“ (S. 127-139) enthält zahlreiche Fotos von Denkmälern, mit denen man die Gefallenen in den beiden Weltkriegen zu ehren versucht. In einem weiteren Kapitel (S. 140-145) stellt der Verf. Dokumente zusammen, die sich auf seine Vortragstätigkeit beziehen und insbesondere die Resonanz in der Presse wiedergeben. Der umfangreiche Anhang (S. 146-179) versammelt schließlich zahlreiche Faksimile-Abdrucke von Berichten, Aufrufen, Verzeichnissen unterschiedlicher Behörden, darunter auch eine Aufforderung zum Boykott jüdischer Geschäfte (S. 159).
Eines dürfte deutlich geworden sein: Dem Verf. geht es nicht um eine Ereignis-Chronologie. Im Vordergrund steht die Darstellung zweier einschneidender Zeitabschnitte, die von verschiedenen Seiten beleuchtet und in ihren Konsequenzen für die Bevölkerung veranschaulicht und nachvollziehbar gemacht werden. Insofern liefert das Buch nicht nur einen Beitrag zur Erinnerungskultur der Gemeinde Ellerstadt, es bietet eine Vielzahl von Anregungen und Argumenten für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den genannten historischen Geschehnissen. Und nicht zuletzt ist aufgrund der Fülle interessanter Illustrationen und anderer Dokumente der Band hervorragend geeignet für die schulische Vermittlung dieser Kapitel deutscher Geschichte.
Heinz-Helmut Lüger, Rez. von Martin Schwarzweller, „Du hörst nicht mehr die Vöglein singen“ – Ellerstadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Ellerstadt 2023, URL: https://www.hist-verein-pfalz.de/de/rezensionen/7/wid,1108/rezensionen.html.
Erschienen in: Pfälzer Heimat 75,1 (2024).